pro agro-Zukunftsabend: Regionalität als gemeinsames Projekt
Datum: 31. Mai 2022
„Zeitenwende Nahrungsmittelproduktion – wohin geht die Reise für unsere Land- und Ernährungswirtschaft in der Hauptstadtregion?“. Das war das Thema des pro agro-Zukunftsabends, zu dem sich am 5. Mai 2022 rund 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung von Lebensmitteln sowie aus Politik und Medien auf Einladung des Marketingverbandes in der Brandenburger Landesvertretung in Berlin eingefunden hatten. Im Vordergrund der Netzwerk-Veranstaltung stand die Frage, wie das enorme Potential einer regionalen Versorgung der Hauptstadtregion mit Lebensmitteln weiterentwickelt werden kann. Wir hören rein.
Letztlich ging es beim „Zukunftsabend“ darum, Antworten auf folgende Kernfrage zu finden: Welche Rahmenbedingungen sind notwendig, die Hauptstadtregion mit genügend regionalen Lebensmitteln aus Brandenburg zu versorgen? Während des Podiumsgesprächs (moderiert von Stefanie Awater-Esper, top agrar-Hauptstadtkorrespondentin), waren sich die Diskutanten aus den Reihen landwirtschaftlicher Erzeuger, Verarbeiter, Vermarkter und der Politik darüber einig, dass regionale Produkte in den kommenden Jahrzehnten eine maßgebliche und nachhaltige Rolle spielen müssen.
Das war eine klare Botschaft. Doch der Teufel liegt, wie immer, im Detail. Am Anfang steht nämlich die Frage, wie man das Attribut „regional“ überhaupt definieren soll. „Der Regionalitätsbegriff ist außerordentlich vielschichtig“, räumte Landwirtschaftsminister Axel Vogel denn auch ein, fügte aber gleich hinzu: „Wir müssen da streng vorgehen und hohe Standards setzen. Das heißt 90 Prozent der Rohstoffe müssen aus Brandenburg stammen, und sie müssen bestimmte Qualitätsmerkmale aufweisen.“ Der Minister bezog sich mit dieser Definition auf die Vorgaben des Brandenburger Qualitätszeichens (siehe hier).
Die beiden Qualitätszeichen könnten nur dann richtig Wirkung erzielen, fuhr er fort, wenn Berlin seine Ernährungsstrategie umsetzt und die Qualitätskriterien (konventionell/Bio) in den Ausschreibungen als auditiertes Siegel verbindlich vorgibt. Ziel sei es, mit dem ersten Schritt in der Gemeinschaftsverpflegung und anschließend im Lebensmittelhandel relevante Marktanteile zu erobern. „Und wenn Direktvermarkter die Siegel auch nutzen wollen, dann soll es uns recht sein“, fügte er hinzu.
Argumentativ unterstützt wurde Vogel von Markus Kamrad, Staatssekretär für Verbraucherschutz beim Berliner Senat. Er bezeichnete die beiden Brandenburger Siegel als „sehr guten Einstieg“ für einen Nachweis regionaler Qualitätsmerkmale. Das sei auch wichtig, um diese Merkmale im Vergabeprozess, zum Beispiel bei der Gemeinschaftsverpflegung, „rechtsfest zu verankern“. Und: „Das Ganze baut natürlich auf Lieferfähigkeit auf. Eine Brandenburger Kartoffel in Bio-Qualität und geschält ist gar nicht so leicht zu kriegen“, schränkte er ein.
Da ließ die Meinung des Praktikers nicht lange auf sich warten. Die EU-notifizierten Qualitätssiegel „finden wir Landwirte gut“, konstatierte Frank Mattheus, Chef der Agrargenossenschaft Neuzelle, einem der größten landwirtschaftlichen Betriebe Brandenburgs. Aber: „Wo liegt der Mehrwert für den Landwirt, der ja zumindest kostendeckend arbeiten muss?“, fragte er. „Wenn das nicht funktioniert, dann brauchen wir die Siegel nicht.“
Ebenso kategorisch, aber aus anderem Blickwinkel, machte Frank Wetterich von der Gläsernen Molkerei deutlich, warum er das Siegel nicht nutzen kann. Sein Betrieb verarbeite etwa zwei Drittel der in Brandenburg erzeugten Bio-Milch. Das sei gerade mal die Hälfte seines gesamten Kuhmilch-Bedarfs. „Die andere Hälfte kommt aus den benachbarten Bundesländern, da die Milchmengen aus Brandenburg nicht reichen“, erklärte er. Sein Vorschlag: Man sollte mit den benachbarten Bundesländern enger zusammenarbeiten.
Damit war ein grundsätzliches Problem angesprochen, das Sebastian Kühn (Eberswalder Wurstwaren) folgendermaßen auf den Punkt brachte: „Wir haben in Brandenburg nicht mehr ausreichend Verarbeitungskapazitäten, um die Region mit Lebensmitteln zu versorgen.“ Politik, Verbände und Unternehmen müssten sich „an die Hand nehmen“ und gemeinsam nach Lösungen suchen. Ludolf von Maltzan (Ökodof Brodowin) hat das bereits in Teilen umgesetzt: Angesichts der hohen Energie- und Transportkosten hat er sich mit anderen Betrieben zusammengetan, um die LKWs gemeinsam zu befüllen und auf diese Weise Transportkosten zu sparen.
Und wie sieht das die Vermarkterseite? Die politischen Forderungen nach mehr Einsatz von regionalen Produkten sind etwa für die Cateringbranche eine große Herausforderung, „weil die Preise für Kitas und Schulen mehr oder weniger von den Trägern festgesetzt werden“, so Franck Roick, Mitinhaber der Widynski & Roick GmbH. Ferner reiche die Produktpalette mit entsprechender Verarbeitungstiefe (Convenience) heute oft noch nicht, um komplette Menüs herzustellen.
Einigkeit herrscht in der Branche, dass ihr der Kampf mit den höheren Kosten und Preisen zu schaffen macht. „Uns fliegen momentan die Einkaufspreise um die Ohren“, sagte Jan Schleicher, Leiter Category Management der REWE Ost. Wegen der steigenden Inflation könne man auch nicht wissen, wie die Kunden in den nächsten Monaten reagieren. Allgemein seien allerdings schon heute Umsatzverschiebungen vom Vollsortimenter zum Discount festzustellen. Doch trotz dieser Verwerfungen bleibe die REWE konsequent bei ihrem Lokalitätsprinzip. Und: „Wir haben nach wie vor ein Sortiment mit gut aufgestellten regionalen Produkten.“
Wegen der landesspezifischen Limitierungen und der externen Einflüsse wie Lieferengpässe, steigende Rohkosten etc. ist es aus Sicht des Landkreises Elbe-Elster angebracht, „Netzwerke aus Wissenschaft, Landwirtschaft, Verarbeitung und Handel zu bilden“, so Landrat Christian Heinrich-Jaschinski. Ziel sei der zügige Aufbau regionaler Wertschöpfungsketten mit dem Ergebnis, marktfähige Produkte zu entwickeln und zu vermarkten.
Das wiederum provozierte den Ruf der betroffenen Marktplayer nach entsprechender Unterstützung durch den Staat, zum Beispiel bei den Preisverhandlungen. „Für Preisverhandlungen ist nicht der Staat zuständig, das ist Sache der Vertragspartner“, entgegnete Vogel und machte klar, dass sich der Staat nicht unmittelbar in Preisverhandlungen einmischen kann. „Er setzt lediglich die Rahmenbedingungen dafür, dass die Branche bessere Preise erzielt.“
Was die künftige Entwicklung der Branche angeht, sieht Kamrad in weniger als 30 Jahren Großhandelsstrukutren in Berlin, die auf die Produkte in der Region ausgerichtet sind. Wobei er beim Begriff „Region“ auch Sachsen-Anhalt oder Sachsen einbezieht. Seiner Meinung nach muss es jedoch „ein klares Junktim“ zwischen Brandenburg als Lieferant regionaler Produkte und Berlin als großstädtischem Absatzmarkt geben. „Da werden wir viel enger zusammenwachsen“, so seine Prognose.